Der Wert eines Gutachtens

22/10/2020

Gilles Vago

Immoday

6 min

Werden Immobilien in Portfolios überbewertet, wie manche behaupten? Dies ist Sache der Experten… Doch wenn der Markt bereit ist, für Fonds mit hohen Agios zu zahlen, muss er doch ein attraktives Potenzial darin sehen, oder?!

 

Woher soll man wissen, ob der geschätzte Wert einer Immobilie korrekt ist? Entspricht er ihrem Marktwert oder spielen spekulative Faktoren mit rein? Dafür ist der Experte da. Er ist derjenige, der den Markt und die Wahrheit kennt… Auch wenn es vielmehr SEINE Wahrheit ist, denn so objektiv diese auch sein mag, seine Analyse kann von seiner subjektiven Wahrnehmung dieses und jenes Kriteriums beeinflusst werden, was wiederum den Wert der Immobilie erheblich verändern kann. Die Bedeutung, die er den ESG-Kriterien beimisst, seine Sensibilität in Bezug auf einfallendes Tageslicht oder die Lärmbelästigung durch die benachbarte Schule… Was also ist der richtige Preis?
 

Kürzlich stellte mir einer meiner Studenten diese etwas naive Frage: «Woher wissen Sie bei zwei Gutachten von zwei verschiedenen Experten, welches richtig ist?»
 

Das Problem widersprüchlicher Expertenmeinungen taucht häufiger auf, als man denkt und betrifft im Wesentlichen Streitigkeiten zwischen Parteien, deren Interessen voneinander abweichen. Bei indirekten Immobilienanlagen kommt dies allerdings selten vor, da ein unabhängiger Experte die Vermögenswerte bewertet und daraus das Vermögen des Fonds bestimmt. Das Problem stellt sich vielmehr im Rahmen der Due Diligence beim Erwerb von Immobilien, bei der jede Partei versucht, die Transaktion zu optimieren. Es kann aber auch berechtigterweise und sehr sichtbar im Leben eines Fonds entstehen, wenn bei einem Expertenwechsel die Schätzungen zu stark divergieren und sich dadurch auf das Fondsvermögen auswirken.
 

Ich werde hier auf die gängige Schlichtungsmethode mit ihren Vor- und Nachteilen eingehen und eine Lösung vorschlagen, die mir für die Suche nach dem richtigen Wert sinnvoller erscheint. In einem zweiten Artikel komme ich auf Expertenwechsel und die Auswirkungen, die die Arbeit des Experten auf Investoren haben kann, zurück.
 

Die Grundlagen


Die Qualifikation und die Art eines Experten zählen zu den Kriterien, anhand derer sich seine Kompetenz und Professionalität bestimmen lassen. Dies ist regelmässig ausschlaggebend bei der Auswahl eines Experten, sagt aber nur a priori etwas über seine Seriosität und Kompetenz aus, ohne dass dabei die Qualität anderer Experten in Abrede gestellt wird (die Meinung, dass einer besser ist, macht die anderen nicht schlecht).

Doch was ist zu tun, wenn beide Seiten Experten benannt haben, die sie für kompetent halten, die aber zu unterschiedlichen Werten kommen? Und wie lässt sich die Entscheidung zugunsten eines dieser Werte rechtfertigen, wenn beide den gleichen Grad an Seriosität und Qualifikation für sich beanspruchen können?
 

In der Praxis gängige Vorgehensweise (Durchschnitt)


Der endgültige Wert ergibt sich als Durchschnitchris-mok-cr-mok-kU0D8AvVgCo-unsplash.jpgt aus den beiden von den Experten ermittelten Werten.
 

Diese Haltung läuft auf die willkürliche Entscheidung hinaus, dass die beiden Berichte von gleicher Relevanz und Qualität sind, ohne dass notwendigerweise die Kompetenz für dieses Urteil vorhanden ist.
 

Diese Vorgehensweise kommt dann zum Einsatz, wenn die Personen, für die die Gutachten erstellt wurden, die Qualität der Berichte und die zugrunde gelegten Parameter aufgrund mangelnder Kenntnisse oder Fähigkeiten auf dem Gebiet nicht beurteilen können.
 


Gründe für diese Vorgehensweise


Diese Situation tritt regelmässig auf und kann manchmal mit der Verwendung einer speziellen Fachterminologie erklärt werden, die der Laie nur eingeschränkt versteht. Leider bleiben bestimmte Themen trotz der Bemühungen, sie allgemein verständlich zu machen, mitunter kompliziert und können trotz zusätzlicher Erklärungen für die klügsten Köpfe vollkommen abstrakt bleiben.
 

Das liegt nicht an demjenigen, der etwas nicht versteht und ebenso wenig Schuld hat wie die Experten!
 

Dennoch bestehen unserer Meinung nach die grössten Vorteile dieser Vorgehensweise darin, dass sie schnell umgesetzt werden kann und keine zusätzlichen Kosten verursacht.
 

Warum diese Vorgehensweise nicht korrekt ist


Diese Vorgehensweise kommt einem Appell an die Unwissenheit gleich, einer kognitiven Verzerrung, denn hier sagen wir, dass beide Werte richtig sind, weil wir nicht beweisen können, dass sie falsch sind. Aber wenn es Menschen gibt, die nicht beweisen können, dass etwas falsch ist, bedeutet das nicht, dass andere Menschen es nicht könnten.
 

Ausserdem bedeutet dies, dass beide Gutachten gleichermassen richtig sind. Divanessa-schmid-USwgY9CeysE-unsplash.jpges ist eine dogmatische Haltung, vor der man sich in Acht nehmen sollte, denn in der Praxis kann sich selbst ein Experte auf seinem Gebiet irren. Im Gegensatz zur Arbeit im wissenschaftlichen Bereich, bei der eine Peer-Review erfolgt, arbeiten Experten für Immobilienbewertungen gewöhnlich allein (dies ist in unserem Unternehmen nicht der Fall). Dies öffnet die Tür für bestimmte Verzerrungen oder sogar für Fehler.
 

Es lässt sich also sagen, dass normalerweise nicht willkürlich auf halbem Weg zwischen zwei Werten entschieden wird.
 

In der Praxis unübliche Vorgehensweise (Experte einer dritten Partei)


Der Kunde (gleich welcher Art) räumt ein, dass er nicht beurteilen kann, ob die Berichte der beiden Experten (Verfasser) von gleicher Qualität sind, und zieht einen dritten Experten (Korrektor) zu Rate, der für die Abgabe eines Gutachtens geeignet ist.

Der fachkundige Korrektor kann dann:
 

- eine Gewichtung (Gewicht, das jedem Bericht zugewiesen wird) nach der Relevanz der Gutachten vornehmen,
 

- eines der Gutachten ablehnen, wenn es z. B. zielorientiert oder zu fehlerhaft ist,

- beide Gutachten ablehnen, falls erforderlich.

 

Vorteil dieser Vorgehensweise


Mit dieser zweiten Vorgehensweise lässt sich erkennen, dass bestimmte Elemente die von dem einen oder dem anderen Verfasser unterstützten Hypothesen verfälschen können, was wiederum zu einer Verzerrung der Qualität eines Gutachtens führen kann, wie z. B.:

 

- Möglicherweise wurde ein oder mehrere Verfasser der Gutachten (wissentlich oder fahrlässig) über bestimmte Punkte nicht in Kenntnis gesetzt.


- Ein Fehler kann (sollte aber nicht) sich in einen der Berichte eingeschlichen haben.


- Aufgrund einer Verzögerung bei der Erstellung standen den beiden Verfassern nicht dieselben Daten zur Verfügung.


- Einer der Verfasser des Gutachtens war nicht in der Lage, neutral zu bleiben (in diesem Fall sollte er den Auftrag ablehnen).


- Und so weiter...


Die Wahrscheinlichkeit, dass einer dieser Gründe eintritt, ist oft plausibel. Diese Probleme zu erkennen, erfordert jedoch Zeit und spezielle Fähigkeiten. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass eine erfahrene Person die Verzerrung nicht erkennt und einen Bericht, der in Wahrheit mittelmässig oder sogar ausgesprochen schlecht ist, als gut einschätzt!
 

Methodik/Protokolldayo-adepoju-wfQyqL-LamE-unsplash.jpg


Um die Vorgehensweise eines dritten Experten richtig anzuwenden, ist idealerweise ein Protokoll erforderlich. Dieses verhindert, dass der Bericht so formuliert wird, dass er der Persönlichkeit des Gutachters schmeichelt. Am einfachsten ist dies, wenn der Name des Korrektors den Verfassern des Gutachtens nicht bekannt ist.
 

Es sollte auch vermieden werden, dass der Korrektor durch den guten Ruf des Verfassers, der das Gutachten erstellt hat, beeinflusst wird. Zu diesem Zweck sollten Berichte auf «neutralisierten» Vorlagen ohne die vom Experten üblicherweise verwendeten Merkmale (insbesondere Logos) erstellt werden.
 

Schlussfolgerung


Die gängige Methode der «Mittelwertbildung» ist unfair und diskreditiert gewissenhaft und akkurat arbeitende Experten sowie diejenigen, für die der erhaltene Wert von Bedeutung ist. Dies gilt für die verschiedenen Parteien in einem Streitfall, aber auch für private oder institutionelle Investoren, auf deren Kapital und Rendite eine Änderung der Bewertung Auswirkungen hätte.
 

Reputation und Kenntnisse sind im Allgemeinen die grundlegenden Parameter, auf denen die Anerkennung eines Experten beruht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Experten gesunden Menschenverstand und Wissen exklusiv für sich beanspruchen können. Manchmal arbeiten Amateure sachdienlicher als Koryphäen. Alles, was sie dafür tun müssen, ist recht zu haben.

Gilles Vago ist Experte für Immobilienbewertungen mit Fachausweis.
 
Er ist im Kanton Waadt ansässig. Gilles Vago absolvierte zunächst eine Ausbildung als Metallkonstrukteur und arbeitete dann in der Herstellung und Anpassung orthopädischer Hilfsmittel, bevor er in das Familienunternehmen eintrat, wo er an der Seite seines Vaters den Beruf des Immobiliensachverständigen erlernte.
 
2014 erwarb er den Fachausweis und trat der Expertenkammer für Immobilienbewertung CEI bei.

2019 machte er sich selbstständig und gründete G. VAGO Analyses Immobilières.

Er arbeitet auch als Lehrer beim Schweizer Verband der Immobilienfachleute USPI Formation.