«Die Differenz zwischen dem inneren Wert der Immobilien und deren finanziellem Wert wird immer grösser»

12/05/2022

Immoday

Olivier Toublan

5 Min

 

Diese – mittlerweile grosse – Differenz könnte einige ärgerliche Überraschungen für Anleger bergen, falls die Nachfrage nach Immobilien z. B. infolge einer Zinserhöhung, welche die Obligationen wieder attraktiv macht, sinkt. Ein solches Szenario ist im aktuellen Wirtschaftsumfeld nicht auszuschliessen. 

 

Eine Marktstatistik jagt die andere und alle kommen zum selben Schluss: Die Immobilienpreise in der Schweiz steigen stetig. Eine Trendumkehr ist nicht absehbar. Die Nachfrage der institutionellen Anleger nach dieser Anlagekategorie ist nach wie vor enorm und das Angebot kann nicht mithalten. Dies treibt die Preise automatisch in die Höhe. Problematisch ist, dass sich der finanzielle Wert der Immobilien immer stärker von deren innerem Wert abkoppelt. Dies könnte den Anlegern einige ärgerliche Überraschungen bereiten. Eine Zinserhöhung, die für ein Comeback der Obligationen sorgen würde, würde beispielsweise genügen, damit die Nachfrage der institutionellen Anleger nach Immobilien zurückgeht ... und die Preise sinken. Diese Gefahr ist umso grösser, als im aktuellen Wirtschaftsumfeld eine Zinserhöhung nicht mehr unwahrscheinlich ist.
 

Dies beunruhigt einige Fachleute wie Alexandre Baettig, Co-Direktor von Acanthe, einer auf Immobilienbewertung spezialisierten Tochtergesellschaft der Naef-Gruppe, und Präsident der Schweizerischen Kammer der Experten in Immobilienbewertungen.

 

Alexandre Baettig, weshalb macht Ihnen die aktuelle Bewertung der Immobilien Sorgen? 
 

Heute sind die Preise einiger Renditeobjekte gigantisch. Wenn wir als Immobilienexperten ein Gebäude bewerten, stellen wir eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem Basiswert – dem Gebäude – und dem Wert, zu dem es auf dem Markt gehandelt wird, fest. Eine Immobilie – das sind zunächst einmal die entsprechenden Quadratmeter Land, Kubikmeter Volumen und der jeweilige Zustand usw., also eine Reihe von Kriterien, anhand deren sich der innere Wert einer Immobilie berechnen lässt. Gleichzeitig gibt es den finanziellen Wert der Immobilie, der auf den Mieten, den Kosten und den erhofften Renditen beruht. Dieser entspricht dem Preis, zu dem die Immobilie in einem gegebenen Wirtschaftsumfeld gekauft bzw. verkauft wird. Und dieses Umfeld ist derzeit sehr speziell, denn es zeichnet sich dadurch aus, dass die Nachfrage – vor allem der institutionellen Anleger – seit Langem viel höher ist als das Angebot, was zur Folge hat, dass die Preise stetig weiter steigen und sich der finanzielle Wert einer Immobilie von deren innerem Wert abkoppelt.

 

Weshalb ist das problematisch? Trifft dies nicht auf alle Finanzanlagen wie beispielsweise die Aktien zu? 
 

Immobilien sind eine etwas besondere Anlage, bei der mit einer deutlich geringeren Volatilität als bei Aktien gerechnet wird. Wie Sie wissen, haben die Immobilien aufgrund des Negativzinsumfelds die Obligationen als stabile Anlagen weitgehend abgelöst. Man spricht in diesem Zusammenhang von Fluchtwert, da Immobilien positive Renditen abwerfen und für langfristige Stabilität sorgen. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn der Anschaffungswert der Immobilie korrekt ist. Ist diese Investition wirklich auf sehr lange Sicht nachhaltig, wenn zu Beginn eine grosse Differenz zwischen dem gezahlten Preis und dem inneren Wert besteht?

 

Ist diese Differenz derzeit sehr gross? 
 

Bei einigen Objekten an bestimmten zentralen Lagen war sie sehr wahrscheinlich noch nie so gross wie heute, was darauf zurückzuführen ist, dass diese Renditeobjekte sehr attraktiv und sehr rar sind. Allerdings lässt sie sich nur schwer schätzen. Da jede Situation anders ist, ist die Differenz zwischen den einzelnen Regionen der Schweiz und zwischen den Grossstadtzentren und den Randgebieten nicht gleich gross. Dennoch ist es nicht ungewöhnlich, dass bei dieser Kategorie von Objekten die Differenz um bis zu 300% variieren kann.

 

Weshalb wird die Differenz zwischen dem finanziellen Wert und dem inneren Wert immer grösser? 
 

Es gibt verschiedene methodologische Ansätze. Der innere Wert reagiert empfindlich auf die Entwicklung der Materialpreise, auf die Baukosten und auf die Grundstückspreise. Der finanzielle Wert reagiert eher auf die Zwänge des Portfoliomanagements und der optimierten Allokation. Wie Sie wissen, müssen institutionelle Investoren jeden Monat umfangreiche Liquidität in nahezu risikolose Anlagen investieren, die dennoch eine positive Rendite abwerfen. Im aktuellen Wirtschaftsumfeld erfüllen praktisch nur noch die Immobilien diese Kriterien. Diese hohe Nachfrage treibt die Preise der Immobilien in die Höhe, ohne dass deren innerer Wert mit diesem Trend mithalten kann. Aus diesem Grund wird die Differenz immer grösser.

 

Warum schenkt man den Experten kein Gehör, wenn sie Alarm schlagen? 
 

Die Immobilienbewertung ist kein einfacher Beruf und ihm haftet auch eine gewisse Subjektivität an. Wenn Sie zehn Experten bitten, dasselbe Objekt zu bewerten, werden Sie wahrscheinlich zehn unterschiedliche Bewertungen erhalten. Oftmals liegen der Entscheidung des Käufers, eine Immobilie zu erwerben, andere Kriterien als die blosse finanzielle Rentabilität seiner Investition zugrunde. Daher ist es bisweilen schwierig, sich Gehör zu verschaffen. In diesem Fall ist es unsere Aufgabe, den Käufer darauf hinzuweisen, dass er ein Risiko eingeht, wenn er zu einem Preis kauft, der im Vergleich zu dem vom Experten ermittelten Wert als zu hoch gilt. Es kommt vor, dass der Experte mit den üblichen Schätzmethoden nicht an den (sehr hohen) Marktwert herankommt. Das ist ein Warnsignal und der Experte muss in der Lage sein, seinem Kunden zu sagen, welchen Wert er nicht mehr für vertretbar hält.
 

 

Das scheint die Investoren nicht zu stören. Sie kaufen fröhlich weiter ... trotz stetig steigender Preise. 

 

In der Tat. Doch wie ich Ihnen bereits erklärt habe, haben die institutionellen Anleger wenig Spielraum und ist die Rentabilität der Investition nicht ihr einziges Entscheidungskriterium. Sie müssen ihre Liquidität investieren, da sie diese aufgrund der negativen Zinsen Geld kostet. Daher ist selbst eine Rentabilität von unter 2% – das Niveau, das mittlerweile mit einigen Gebäuden im Zentrum von Genf oder Zürich erreicht wird – besser, als Negativzinsen von 0,75% zahlen zu müssen.

 

Wenn wir schon über Zinsen sprechen: Die Fed in den USA zieht die Zinsschraube an, die Europäische Zentralbank dürfte demnächst nachziehen. Es ist also nicht auszuschliessen, dass auch die SNB die Zinsen anhebt. Nehmen wir an, die Zinsen steigen. Falls sich die institutionellen Anleger dann wieder den Obligationen zuwenden, dürften die Immobilienpreise aufgrund der geringeren Nachfrage doch wieder sinken, nicht? 
 

Wenn von einer optimierten Allokation zwischen den Anlagekategorien ausgegangen wird, ist diese Überlegung richtig. Unter dieser Annahme und vorausgesetzt, die Investitionsflüsse ändern sich, ist tatsächlich nicht auszuschliessen, dass sich der finanzielle Wert der Immobilien wieder deren innerem Wert annähert, was zu einem Preisrückgang führen würde, der ausgehend von den aktuellen Preisen recht gross ausfallen könnte. Aber aufgepasst: Man muss differenzieren, denn es handelt sich hierbei um einen theoretischen Mechanismus. Es können auch andere wirtschaftliche Faktoren wie die Inflation eine Rolle spielen.

 

Dies bleibt dennoch ein realistisches Szenario? 
 

Ich denke, wir nähern uns einem Höhepunkt an und das Ende des Zyklus ist nah. Wann genau es so weit ist, weiss ich allerdings nicht. Ich will keine Hellseherei betreiben. Schon seit bald zehn Jahren heisst es, der Höhepunkt sei erreicht, und doch steigen die Preise weiter.

 

Sie sind auch Direktor von Lithos, einer Anlagestiftung. Welche Immobilienanlagestrategie verfolgen Sie dort? 
 

Aus den genannten Gründen sind wir bei Investitionen in neue Objekte sehr vorsichtig. Wir konzentrieren uns auf die Aufwertung des bestehenden Portfolios und bevorzugen Bauprojekte, mit denen noch etwas höhere Renditen erzielt werden können. Abgesehen davon stehen wir nicht unter demselben Druck wie manche institutionellen Anleger, da wir nur wenig oder gar keine Liquidität halten, die wir jedes Jahr investieren müssen.

 

Olivier Toublan für Immoday