«Finanzakteure sollten die Swiss Climate Scores anwenden und Best Practices daraus entwickeln»

21/10/2022

Olivier Toublan

Immoday

5 Min

 

ESG als Begriff für Umwelt, Soziales und Unternehmensführung wird in der Immobilienbranche intensiv diskutiert. Marco Chinni, CEO und Partner Primecoach AG sowie Leiter der Coptis ESG-Arbeitsgruppe ist ein Experte in diesem Bereich.


Im Interview äussert er sich zu ESG-Strategien, deren Herausforderungen und welche Unterstützung der Praxisleitfaden der Arbeitsgruppe bietet. Und er äusserst sich ausführlich zu den vom Bundesrat lancierten "Swiss Climate Scores" - und weshalb Primecoach diese Initiative begrüsst.

 

Herr Chinni, Primecoach befasst sich schon lange mit dem Thema ESG. Sie sind auch Leiter der entsprechenden Arbeitsgruppe bei COPTIS. Welche Dienstleistungen erbringt Primecoach im Bereich ESG?

 

Wir verfolgen das ESG-Thema seit langem, da wir immer davon überzeugt waren, dass nachhaltige Finanzwirtschaft ein grundlegender Hebel für einen erfolgreiche wirtschaftliche Transition ist. Schon bevor ESG zum definierenden Thema wurde, haben wir uns intensiv mit dem Thema Good Governance beschäftigt.

 

Unsere Dienstleistungspalette wird zunehmend erweitert, da ESG heutzutage keine Modeerscheinung mehr ist, sondern einen Paradigmenwechsel darstellt. Die globale Erwärmung und ihre sichtbaren negativen Auswirkungen stellen uns vor die Frage, welche Verantwortung wir alle übernehmen müssen und wie wir in der Finanzbranche zu einer tatsächlichen positiven Entwicklung beitragen können.

 

Und diese Frage sollten wir uns schnell stellen…

 

Natürlich. Je schneller Firmen diesen Paradigmenwechsel in ihre Geschäftsmodelle integrieren, desto grösser sind ihre Chancen, auch morgen noch wettbewerbsfähig zu sein.

 

  • - Wir unterstützen Firmen mit deren konsequenter ESG-Umsetzung: Definition der firmeneigenen Strategie, deren umfangreiche Umsetzung, unabhängige Verifizierung und detaillierte Berichte für den internen Gebrauch, Mitarbeitersensibilisierung, Regelwerke, technologische Unterstützung, auf die Bedürfnisse zugeschnittene Ausbildungen und vieles mehr.

 

  • - Zudem und weil sich der Bereich der nachhaltigen Finanzwirtschaft ständig weiterentwickelt, helfen wir unseren Kunden dabei, auf den Wellen der zahlreichen Standards, Empfehlungen, und Vorschriften zu navigieren und die besten Lösungen für ihr Unternehmen zu finden.

 

  • - Erfolgreiche Unternehmen setzen in ESG-Fragen konsequent auf ihre Strategie, die folgerichtige Umsetzung, eine geradlinige Kommunikation sowie eine schlüssige Darstellung in der Berichterstattung. Wir unterstützen bei Kommunikations-Massnahmen, der Erstellung von CSR-Berichten, der regulatorischen Berichterstattung und vielen mehr.

 

Was muss denn eine konsequente ESG-Strategie in Unternehmen der Immobilienverbriefung beinhalten?

 

In den vergangenen Jahren hat der Bereich Immobilien erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Transparenz und Performance im Bereich ESG zu verbessern. Es wurden viele Massnahmen ergriffen, um auf die vorherrschende Klimakrise zu reagieren. Wir sehen die Immobilienverbriefungen als einen der Bereiche mit dem höchsten potenziellen Wirkungsgrad in der erfolgreichen Anwendung von Nachhaltigkeitsansätzen, weil hier, mit der entsprechenden Strategie, eine direkte und nachweisbare Nachhaltigkeitswirkung erzielt werden kann.

 

Wo liegen die Hindernisse?

 

Um dem Ausmass der Herausforderungen Herr zu werden und Vorreiter in einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu werden (auf den Immobiliensektor entfallen 35% - 40% der globalen Treibhausgasemissionen und ein Drittel der Schweizer Emissionen), müssen Unternehmen das Thema Nachhaltigkeit fest im Zentrum ihrer Geschäftsprozesse verankern, indem sie sich auf die Entscheidungen mit den grössten Hebeln konzentrieren und effektive Durchführungsmechanismen im Sinne von ESG umsetzen.

 

Im Immobilienbereich sollte die ESG-Strategie dazu auf drei Ebenen konsequent umgesetzt werden:

 

- Auf Ebene der Vermögensverwalter;
 

  • - Auf Ebene der Portfolios, für die das Unternehmen verantwortlich ist oder die das Unternehmen verwaltet (Fonds, Anlagestiftungen, strukturierte Produkte usw.); und
     

- Auf Ebene der Immobilienanlagen.

 

Die Ansätze für die strategische Ausrichtung und operative Umsetzung können sich je

nach Ebene unterscheiden, aber der Dialog zwischen den drei Ebenen ist fundamental, um kohärente ESG-Strategien zu definieren und durchsetzen.

 

Welche Unterstützung bietet dabei der Leitfaden, den Sie mit der Coptis ESG-Arbeitsgruppe verfasst haben?

 

Lassen Sie mich dazu zuerst sagen, dass Coptis früh erkannt hat, dass ESG im Immobilienbereich ein wichtiges strategisches Thema ist, kommen doch 35-40 % der Treibhausgas-Emissionen aus dem diesem Bereich. Es lässt sich also ein nachhaltiger Beitrag leisten, wobei sämtliche Akteure der Immobilienwirtschaft gefordert sind. Der Bedeutung entsprechend hat Coptis die ESG-Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, bei der die Banque Cantonale Vaudoise (BCV) ein wichtiger Supporter ist.   

 

Die Arbeitsgruppe hat einen Leitfaden mit Vorschlägen und Umsetzungslösungen zum Thema ESG erarbeitet und Coptis empfiehlt seinen Mitgliedern, sich bei der Umsetzung ihrer Politik zur nachhaltigen Entwicklung nach diesem Praxisleitfaden zu richten. Er betrifft die Themen Governance, Ausbildung, Transparenz, Bewertungskriterien und Commitment. Die Empfehlungen werden kontinuierlich überprüft und bei Bedarf an neue Entwicklungen angepasst.

 

Die Umsetzung der Strategie beinhaltet die Umsetzung zahlreicher regulatorischer Anforderungen. Welche stehen dabei heute im Fokus?

 

Die neuen MiFID-Zielmarktregeln (Target Market) treten am 22. November in Kraft. Die EU-Regeln verlangen von den Fondsanbietern, dass sie mehr Informationen von den Fondsherstellern einholen, um ESG-Kriterien im Target Market zu berücksichtigen.

 

Zudem gibt es  momentan viele Fragen zur:

 

  • - Anwendbarkeit dieser Regeln in der Schweiz. In der Schweiz gibt es unter FIDLEG keine solche Regeln, aber de facto werden diese neuen Regeln durch den Vertragsweg zwischen Fondsherstellern und Distributors angewendet.

 

  • - Umsetzung und Best Practices betreffend dem EET, dem European ESG Template.

 

  • - Ausgestaltung von Impact Fonds, einschliesslich der Messbarkeit von Zielen und Wirkungen, sowie den Transparenzanforderungen gegenüber Anlegern.

 

Welche Rolle spielt ein glaubwürdiges und transparentes Reporting?

 

Eine transparentere Berichterstattung ist entscheidend, um den Investoren die Geschichte der Wertschöpfung des Unternehmens zu erzählen und so das Vertrauen der Investoren zu gewinnen.

 

Vertrauen ist die Voraussetzung für ein weiteres Mainstreaming nachhaltiger Finanzdienstleistungen und kann nur durch konsequente Offenlegung erreicht werden. Wenn die Nachhaltigkeitsstrategie von Anfang an klar ausgestaltet ist, muss hinterher nichts in der Offenlegung verschwiegen werden.

 

In Richtung Transparenz gehen auch die «Swiss Climate Scores» für Finanzanlagen, die der Bundesrat Ende Juni lanciert hat. Um was handelt es sich dabei genau?

 

Mit den SCS verfolgt der Bundesrat das Ziel, Anlegern verlässliche und vergleichbare Informationen über die Kompatibilität ihrer Finanzanlagen mit den internationalen Klimazielen zu geben. Die Schweiz bekennt sich so offiziell zu diesen Zielen. Sie blickt dabei weniger in die Vergangenheit, wie es vielleicht bei der SFDR der Fall ist, sondern in Richtung positiver und zukunftsgerichteter Entwicklung hin zu einer nachhaltigeren Zukunft.

 

Der Bundesrat empfiehlt, die SCS auf Aktien- und Obligationenportfolios anzuwenden und schafft damit eine weitere Vergleichsmöglichkeit für Investoren. Wir prüfen derzeit, inwiefern eine Anwendung auch auf Immobilienportfolios sinnvoll ist und welchen Mehrwert für die Investoren erzielt werden kann.

 

Braucht es diese Scores? Oder ganz direkt gefragt: Was halten Sie davon?

 

Ja - und wir begrüssen diese Initiative auf folgendes Gründen:

 

  • - Das Rahmenwerk sorgt für Transparenz gegenüber dem Anleger. Wie vorher erwähnt, ist diese Transparenz fundamental, um das Vertrauen der Investoren zu gewinnen, ihnen zu ermöglichen, fundierte Entscheidungen zu treffen und die Entwicklung nachhaltiger Finanzen zu gewährleisten.

 

  • - Indem das Rahmenwerk auf alle Finanzprodukte und -portfolios angewendet wird, schafft es gleichzeitig das level playing field zwischen den Finanzinstituten zu stärken.

 

  • - Zudem stellt der Bundesrat Indikatoren zur Verfügung, um Greenwashing zu vermeiden - ein Problem, das weiterhin Thema ist.

 

  • - Schliesslich erfinden die SCS keine neuen Regeln, sondern basieren auf internationalen, bereits bekannten Standards.

 

Wir sind überzeugt von den SCS und empfehlen deren Anwendung - trotz ihres unverbindlichen Charakters, weil:

 

  • - sie die Erwartung des Anlegers auf eine positive Auswirkung seiner Investition erfüllen und Informationen über die Auswirkung der Anlage auf die globalen Klimaziele beinhalten.

 

  • - sie die Unternehmen befähigen, ihre Risiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel besser zu managen. Dies führt u.a. zu Kostensenkungen.

 

  • - Und sie den Instituten ermöglichen, ihre Praxis weiterzuentwickeln und zukünftige regulatorische Entwicklungen besser zu antizipieren.

 

Welche Indikatoren sollen eine vergleichbare Informationsbasis zur Klimaverträglichkeit schaffen?

 

Im Bewusstsein, dass die Methoden zur Berechnung der Anpassung der Portfolios an das Pariser Klimaabkommen noch sehr unterschiedlich sind, hat der Bundesrat sich für 6 Indikatoren entschieden, um Greenwashing zu vermeiden, das durch die Verwendung nur eines Indikators entstehen könnte.

 

Diese Indikatoren sind sehr pragmatisch und schaffen Vergleichbarkeit im Bereich Climate Alignement. Heute sind diese Informationen in der Dokumentation eines Finanzprodukts an verschiedenen Stellen verstreut oder tauchen dort gar nicht auf.

 

Die sechs Indikatoren sind:

 

1. Treibhausgas-Intensität und -Fussabdruck des Portfolios.


2. Anteil Portfolio-Unternehmen mit Aktivitäten in Kohle und anderen fossilen Brennstoffen.


3. Anteil Portfolio-Unternehmen mit verifizierten Bekenntnissen zu Netto-Null und glaubwürdigen Zwischenzielen.


4. Strategie mit dem Ziel, Treibhausgasemissionen der Investitionen zu reduzieren. Verifizierte Verpflichtung zu Netto-Null.


5. Anteil Portfolio-Unternehmen mit welchen ein Klimadialog geführt wird. Unterstützte Klimaabstimmungen. Mitglied einer Klima-Engagement-Initiative.


6. Ausmass der globalen Erwärmung, wenn die Weltwirtschaft mit der gleichen Ambition wie die Portfolio-Unternehmen handeln würde.

 

Geht die Schweiz hier einen Sonderweg oder sind diese Scores mit der EU-Taxonomie-Verordnung vergleichbar?

 

Die Climate Scores schaffen vorausschauend Transparenz über die künftige Erreichung von Klimazielen.

 

Der gewählte Ansatz unterstützt die wirtschaftliche Transition. Die in der EU übliche – schwierige Unterscheidung zwischen „grünen“ und „nicht grünen“ Unternehmen wird weggelassen. Somit werden die Anstrengungen hervorgehoben, die unternommen werden, um eine Reduzierung der Emissionen im Einklang mit den globalen Klimazielen zu erreichen. Das finden wir sehr pragmatisch.

 

Zudem entwickelt die Initiative des Bundesrates ein einfaches Transparenzinstrument für den Anleger auf Produkt Level aber auch auf Portfolio Level.

 

Die Anwendung der Scores wird empfohlen. Können wir es uns heute noch leisten, ohne Verbindlichkeit zu agieren?

 

Wir unterstützen den Ansatz der Bundespolitik im Bereich der nachhaltigen Finanzwirtschaft, der auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht. Der Regulator sollte nur dazu dienen, dass der Markt optimal funktioniert, langfristige Wirkungen berücksichtigen kann und die Best Practices und Self-Regulierungen weiterentwickeln lassen. Selbstverständlich müssen sich Anleger darauf verlassen, dass in ESG-Produkten tatsächlich auch ESG enthalten ist.

 

Die Finanzbranche hat oftmals in Eigenverantwortung effizient umgesetzt. Die Selbstregulierung hat eine gewisse Flexibilität, basiert auf Fachwissen, ist schnell umsetzbar, hat eine hohe Kosteneffizienz und geniesst eine hohe Akzeptanz bei den Betroffenen. Darüber hinaus kann der ständige bilaterale Austausch zwischen einem Selbstregulierer und der Aufsichtsbehörde zur Verbesserung der Regulierungsqualität beitragen.

 

Unsere Message an der Industrie ist klar: Da sich die internationalen Standards zu Klimaauswirkungen rasch entwickeln und vertiefen, sollten alle Schweizer Finanzakteure mitspielen und diese SCS anwenden und Best Practices daraus entwickeln. Es geht um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit, die Positionierung der Schweiz als nachhaltig führenden Finanzplatz und ihre gesellschaftliche Verantwortung.
 

Olivier Toublan, Immoday

Immoday